Die MIT Erfurt hatte am 02. Juni 2025 zu einem wirtschaftspolitischen Gespräch mit
Thüringens Wirtschaftsministerin Colette Boos-John eingeladen. In den Räumen der
Jüttner Orthopädie KG in Erfurt Kerspleben begrüßten das Vorstandmitglied Stephan
Hauschild gemeinsam mit der Juniorchefin Katrin Jüttner die Anwesenden und stellten
kurz das Unternehmen vor.
Gegründet wurde das in dritter Generation geführte Familienunternehmen 1946 nach
dem 2. Weltkrieg mit dem Ziel, Kriegsversehrte mit Prothesen und Stützapparaten zu
versorgen. Heute beschäftigt das Unternehmen mehr als 310 bestens geschulte
Mitarbeiter an 25 Standorten. Damit bietet das Unternehmen eine wohnortnahe
medizinische Dienstleistung in den Bereichen Orthopädietechnik,
Orthopädieschuhtechnik, Sanitätsfachgeschäft, Kinderrehabilitation, Rehatechnik und
Homecare.
Auch die eingeladene, erst vor einem halben Jahr ins Kabinett berufene
Wirtschaftsministerin Colette Boos-John stammt ursprünglich aus der Geschäftsführung
eines familiengeführten Unternehmens. Kein Wunder, dass die Chemie sofort passte.
In dem von der MIT-Kreisvorsitzenden Prof. Dr. Regina Polster moderierten Gespräch
sprach Ministerin Boos-John offen über ihren Wechsel aus der Wirtschaft in die Politik –
und nannte diesen Übergang ganz direkt einen „Kulturschock“. Nach über 35 Jahren
unternehmerischer Praxis plötzlich mit den langsamen Prozessen der Politik und
Verwaltung konfrontiert zu sein, sei eine echte Umstellung.
Die Ministerin schilderte, dass sich politische Arbeit oft nicht produktiv anfühlt, gerade weil legislative Prozesse
eine andere Dynamik und Zeitachse haben als das operative Wirtschaften.
Da sie erst einige Tage vorher von einer Wirtschaftsdelegationsreise in die USA
zurückgekehrt war, drehten sich die ersten Fragen erwartungsgemäß um die
amerikanische Zollpolitik sowie die Einwanderungs- und Bildungspolitik unter Trump.
Das Gespräch nahm schnell Fahrt auf – und drehte sich bald um digitale
Verwaltungsprozesse, künstliche Intelligenz, Onboarding-Prozesse in Behörden und die
tiefgreifenden Herausforderungen in der Verwaltungsmodernisierung. Dass Bürokratie
für viele Unternehmen längst zur Innovationsbremse geworden ist, wurde in den
Redebeiträgen der anwesenden Unternehmer deutlich. ESG-Regeln, das
Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, zahllose Dokumentationspflichten – all das sei
längst an einem Punkt angekommen, den viele im Raum nur noch als
„Überreglementierung“ bezeichneten.
Ein eindrucksvolles Beispiel: In den 90er Jahren hatte Firma Jüttner drei Verträge mit
Krankenkassen, die es zu pflegen galt. Heute sind es über 1.400. Ein hausinterner
medizinrechtlicher Experte ist inzwischen unerlässlich – andernfalls wäre die Bürokratie
schlicht nicht mehr zu bewältigen.
Die Ministerin sprach sich deutlich für neue Denkansätze aus: Verwaltung müsse neu
gedacht werden – statt immer neue Lösungen auf alte Strukturen zu stülpen. Ein klares
Problem seien dabei die viel zu zahlreichen Doppelstrukturen, die oft historisch
gewachsen, aber längst nicht mehr gerechtfertigt seien. Diese zu entflechten sei nicht
nur sinnvoll, sondern notwendig, um Ressourcen effizienter zu nutzen – und das
Vertrauen in Verwaltung und Politik zurückzugewinnen. Auch der Normenkontrollrat
und das Konzept eines Bürokratiemelders kamen zur Sprache – als Instrumente, die zwar
gut gemeint sind, aber bislang noch zu wenig Wirkung entfalten.
Ein weiterer Schwerpunkt des Abends: Die neue Förderung der Meisterausbildung ab
2026 in Thüringen sowie der zunehmende Arbeits- und Fachkräftemangel, der durch
veraltete Verfahren in der Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse noch verschärft
wird. Ein Lösungsansatz zur Beschleunigung des Verfahrens und einer einheitlichen
Rechtsmeinung könnte in der Zentralisierung einer Anerkennungsbehörde liegen.
In der anschließenden Diskussionsrunde war die Meinung einhellig: Der wirtschaftliche
Schmerz ist groß – aber offenbar noch nicht groß genug, um den nötigen politischen
Druck für echte Reformen auszulösen. Die Energiepreise, die Steuerbelastung sowie der
hohe deutsche Mindestlohn im internationalen Vergleich wurden dabei als
Hauptprobleme benannt, die Thüringer Unternehmen im internationalen Wettbewerb
stark benachteiligen.
Der Mittelstand wird mit seinen Problemen immer noch zu wenig
gehört. Ministerin Boos-John sagte zu, die verschiedenen Anliegen der Teilnehmer
durchaus ernst zu nehmen und sich in den nächsten 4 Jahren dieser Legislatur besonders
für den Thüringer Mittelstand einzusetzen. Dazu forderte sie die Teilnehmer auf,
weiterhin die direkte Kommunikation mit ihr und ihrem Hause zu suchen.
Im Anschluss an die Diskussionsrunde gab es noch für alle Teilnehmer die Möglichkeit,
bei einer Führung vom Leitenden Orthopädietechnikermeister Tobias Trappe durch die
Werkstätten der Firma Jüttner, den kundenindividuellen Prozess zum Prothesenbau
etwas näher kennenzulernen.
Den Ausklang bildete ein kleines, feines Buffet, das Raum für persönliche Gespräche,
Vernetzung und spontane Ideen ließ. Denn genau dafür sind solche Abende da: für
Austausch, Inspiration – und gemeinsame Perspektiven.
Das Fazit dieses „MIT im Gespräch“ lautet: Wo Wirtschaft und Politik offen miteinander
sprechen, entstehen Verständnis, Lösungen – und manchmal sogar Visionen.
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